Stillen – ein Blick in die Kulturgeschichte
- Martina Sommerauer
- 14. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Aug.

Stillen ist ein natürlicher und elementarer Vorgang in der Evolution der Säugetiere. Bis ins 19. Jahrhundert gab es für Neugeborene im Wesentlichen nur diese Form der Ernährung. Dennoch finden sich schon früh Zeugnisse dafür, dass Kinder ohne die Milch der eigenen Mutter ernährt wurden – sei es durch Ammen oder Mägde, die gegen Bezahlung andere Kinder stillten.
Wie das Stillen bewertet wurde, hing im Laufe der Kulturgeschichte stark von religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen ab. Mancherorts spielte zum Beispiel die Arbeitskraft der Frau eine entscheidende Rolle: War sie in der Stillzeit «blockiert», wurde bewusst nicht gestillt, um ihre Arbeitskraft nutzen zu können.
Weltweit betrachtet lässt sich jedoch klar sagen: Nicht gestillte Kinder hatten und haben ein deutlich höheres Risiko, zu sterben, als gestillte Kinder.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und der zunehmenden Industrialisierung veränderte sich die Säuglingsernährung grundlegend. Ab den 1920er-Jahren wurde industriell hergestellte Säuglingsnahrung auf Kuhmilchbasis entwickelt und immer stärker genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die westliche Welt einen wirtschaftlichen Aufschwung, begleitet von grossem Fortschrittsglauben. Die Werbung für künstliche Säuglingsmilch nahm massiv zu – sie hob vor allem Hygiene und Sterilität hervor und stellte die Flaschenfütterung als praktisch und modern dar, da auch andere Personen die Fütterung übernehmen konnten.
In den 1960er-Jahren kam ein gesellschaftlicher Wandel hinzu: Der Wunsch nach Gleichberechtigung, die Erfindung der Pille und sinkende Geburtenraten beeinflussten auch das Stillverhalten. Stillen galt zunehmend als unmodern, figurgefährdend, einschränkend – und sogar als Zeichen niedrigen sozialen Status. Die Stillraten fielen bis zu einem Tiefpunkt in den 1970er-Jahren.
Doch genau in dieser Zeit begann auch eine Gegenbewegung: Biologische und physiologische Vorteile des Stillens wurden wiederentdeckt. Nach der Jahrtausendwende gab es schliesslich wieder mehr gestillte als flaschenernährte Kinder.
Doch die Lücke einer ganzen Generation nicht-stillender Mütter hatte Folgen: Vielen Frauen fehlten persönliche Vorbilder. Oft konnten sie ihre eigene Mutter oder nahe Verwandte nicht um Rat fragen – schlicht, weil diese selbst nicht gestillt hatten.
Diese Erfahrungslücke führte zu einer Professionalisierung: Stillberater*innen wurden ausgebildet, um Wissen, Erfahrung und Vertrauen wieder in die Familien zu bringen.
Heute wissen wir: Stillen ist nicht nur Nahrung, sondern Beziehung, Bindung und Biologie in einem – und seine Geschichte spiegelt die gesellschaftlichen Werte und Strömungen einer ganzen Epoche wider.
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